Der Atem der Blumen
Im urbanen Gehäusel der Stilfser Wohnterrassen zwischen den Bödenäckern und Fatira überraschen grüne Oasen, in denen Blumen wohnen. Jedem Haus sein Garten, oft nur so groß wie ein „Schneiztiachl“, das Raum besetzt für Salatköpfe, Kräuter und immer auch Blüten. Die verschwiegenen Spielwiesen des Alltags erzählen von Sorgfalt und Freude, selbst wenn die Menschen, zu denen sie gehören, nicht zu sehen sind. Nahrung und Vorrat für Körper und Seele. Tief dringt Carmen Müller als kunstreiche Forscherin in das Wesen der Gärten ein, um reich zu ernten, wo viele gar nicht wahrnehmen. Aus dem existentiellen Wippen und Nicken und Wachsen von Menschen, Pflanzen und Geschichten destilliert sie den rankenden Reigen zwischen Werden und Vergehen und den Atem der Blumen. Das kleine Haus füllt sich mit der Collage eines zeitlosen Dialogs, der allen Sinnen dient. Ihr Sehen, Hören, Riechen und Schmecken komponieren eine Auswahl, die einen Setzkasten der Wahrnehmung für uns bestückt. Das Altbekannte, anscheinend Selbstverständliche kippt in einen neuen Wahrnehmungsraum, der reich beschenkt. Gesammeltes, Getrocknetes, Gemaltes, Gesticktes, Gezeichnetes legt sich über verfügbare Flächen und lässt die Räume raunen. Auch Centaurea Cyanus, Fiordaliso, die Kornblume, auch Marienblume, atmet das leuchtende Blau ihrer zarten Korbblüten ins Innere der Stuben und erzählt von ihrem Schicksal im Wogen der Zeiten zwischen Heilkraut und Unkraut und als uraltes Symbol für Lebenskraft, Fruchtbarkeit, Liebe und Treue. Auch in Tempera auf Papier berührt uns die Schönheit dieser sagenumwobenen Blume, in die Zeus sich verwandelt hat, um Hera zu erobern. Carmen Müller wählt den efeuumrankten Zauber des Daseins und das „Sanfte Gesetz“. Im Kleinsten liegt das Große, wenn wir es sehen.
Text: Karin Dalla Torre